Artikel im „Der Standard“ am 10.02.2022 S.26 unter dem Titel „Biographie der Supermarktmilch“.
Der Mensch und seine „Beziehung“ zum Tier: In dem Dokumentarfilm „Cow“ zeigt Andrea Arnold die Folgen einer auf Effizienz getrimmten Lebensmittelindustrie, welche die Vierbeiner leiden lässt.
Bert Rebhandl
Von den Augen sagt man oft, sie seien das Fenster zur Seele. Bei Kühen würde man mit diesem Satz aber vermutlich zögern. Denn wenn man einer Kuh oder einem Kalb in ein Auge schaut (in beide zugleich geht eigentlich nicht), sieht man ein Rätsel. Man bekommt nämlich nicht wirklich einen Blick zurück. Man weiß nicht so recht, ob man auch gesehen wird, während man auf das Tier schaut. Daraus entsteht eine Distanz, die sich bei anderen Tieren leichter überbrücken lässt. Kühe aber stehen sehr für sich.
Vielleicht hat es auch damit zu tun, was die industrialisierte Landwirtschaft ihnen zumutet. Kühe protestieren dagegen auf eine Weise, die sich leicht übersehen lässt. In dem Dokumentarfilm Cow von Andrea Arnold (neu bei dem Streamingdienst Mubi) ist ein geöffnetes Auge eines der allerersten Bilder. Es gehört zu einem Kalb, das gerade zur Welt gekommen ist. Schon hier entsteht diese leichte Verunsicherung, ob man überhaupt etwas miteinander zu tun hat: der Mensch, der zusieht, und das Tier, das in einer ganz eigenen Welt zu leben scheint. Das Kalb wie auch seine Mutter gehören zu einem englischen Bauernhof, der weitläufig genug ist, um den Tieren durchaus Raum zu geben. Dass aber alles auf maximale Effizienz in der Milchgewinnung ausgerichtet ist, ist unübersehbar.
Die Kuh und ihr Kalb
Andrea Arnold geht es, wie der Titel schon zu erkennen gibt, um eine Kuh und zugleich um das, was die menschliche Wirtschaft aus ihr und ihresgleichen macht. Die Kuh und ihr Kalb machen die Erzählung in Cow auf eine Weise aus, dass man daraus fast so etwas wie eine Biografie machen kann: Nach der Geburt kommt erst einmal die Trennung, das Jungtier wächst mit seinesgleichen auf, trinkt von der Plastikzitze, bekommt ein Nummernschild ins Ohrwaschel gestanzt, bald werden die Hornwurzeln weggebrannt (unter zärtlichem Zureden: „good girl“), dann darf es ins Stroh und bedankt sich dafür mit ein paar erleichterten Hüpfern.
Die Mutter, die eigentliche Hauptfigur, tut derweil ihren täglichen Dienst. Sie hat ihre Nummer, 29, hinten auf dem Schenkel stehen und schleppt sich von der Fütterung zum vollautomatisierten Melkkreisel, wo sie mit Musik von Billie Eilish oder Kali Uchis beschallt wird.
In allen ihren Bewegungen ist sie durch eine anatomische Besonderheit bestimmt, die in Cow niemals direkt ins Zentrum des Bilds gerückt wird, die aber auch so unübersehbar ist: Der Euter ist so schockierend überdimensioniert, dass man sich unwillkürlich fragt, ob das noch erlaubt ist. Es sieht auf jeden Fall stark nach Tierquälerei aus, und nach brutaler Hervorzüchtung des primären Nutzmerkmals.
Alle Fragen nach einer tiergerechten Landwirtschaft und nach dem Konsumentenwissen um die Herkunft der Supermarktmilch lässt Andrea Arnold aber außen vor. In ihrem Film wird kaum etwas gesprochen, im Mittelpunkt steht konsequent die Kuh – und die schweigt.
Das andere Leben
Das ist dann auch das hervorragende Merkmal des Films Cow im Vergleich zu Victor Kossakovskys Gunda, in dem erst neulich eine Muttersau, ein Huhn und auch ein paar Kühe in einem vergleichbaren Dokumentarfilm auftraten. In Gunda aber lief alles auf Ähnlichkeit hinaus, und auf eine Rhetorik der impliziten Beredsamkeit: Die Tiere zeigten Eigenschaften wie Eitelkeit oder Originalität, und vor allem hatten sie offensichtlich Gefühle.
In Cow gibt es auch Momente, in denen sich ein anderes Leben der Tiere zumindest abzeichnet, vor allem in der kostbaren Zeit auf der Wiese. Doch der allergrößte Teil des Lebens der Kuh ist ein Regime, das der Mensch für sie gemacht hat. Ein Regime, das man sich nur ausdenken kann, wenn man dem „guten Mädchen“ keine Seele zuerkennt. Der gebrochene Blick zwischen Kuh und Mensch ist das Prinzip von Cow . Er ist auch eine Herausforderung an eine Ethik, die sich nicht nur von einer Ästhetik der Nähe bewegen lässt. Sondern auch das Fremde schützenswert findet. Im Kino
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